Kleine Fluchten von Carole Fives

Linda Woischwill

 

Das Buch „Kleine Fluchten“ von Carole Fives nimmt uns mit nach Frankreich, genauer gesagt nach Lyon, und stellt uns eine alleinerziehende Mutter und ihren kleinen, 1,5 Jahre alten Sohn vor. Die beiden leben in einer Wohnung, in der ursprünglich auch der Vater des Kindes gelebt hat. Dieser entschied sich allerdings von heute auf morgen, die Familie zu verlassen. Und jetzt? Ja, und jetzt…. Jetzt sitzt die namenlose Mutter in einer fremden Stadt, in die sie nur wegen ihrem Ex-Freund gezogen ist und hat keine Freunde und Verwandten, die ihr bei der Betreuung und Erziehung ihres Sohnes unter die Arme greifen könnten. Die Wohnung, in der sie leben, ist eigentlich viel zu teuer für eine Person, die als Freiberuflerin tätig ist und ihren Job aufgrund der Erziehung des Kindes und der Führung des Haushaltes kaum noch ausüben kann. Und Hilfe vom Amt - finanzieller Art oder mit einem Kitaplatz für den Sohn - Fehlanzeige. Keine Hilfe, nur Gespött, Vorwürfe und gutgemeinte Ratschläge.

 

Jeden Abend bringt sie das Kind ins Bett, welches seit dem Weggang des Vaters so starke Verlustängste hat und ständig nach ihr schreit. Nachdem es endlich eingeschlafen ist, kümmert sie sich um den Haushalt, versucht ihre Aufträge (die wenigen, die sie überhaupt noch bekommt) abzuarbeiten und wenn sie mal einen Schluck koffeinfreien Kaffee trinken will, schreit das Kind schon wieder nach ihr.

 Das ist jetzt also ihr Leben?! Sie kann sich damit nicht abfinden, sie dreht durch. Sie beginnt, sich kleine Fluchten aus dem Alltag zu suchen. Nur mal zwei Stunden raus, sobald das Kind schläft. Sie braucht das, einen Spaziergang in der Nacht, runter zum Fluss. Es wird schon nichts passieren….

 In Internetforen versucht sie, Hilfe und Tipps zu finden, andere Mütter, mit denen sie sich austauschen kann. Aber auch da, keine Unterstützung oder Verständnis. Nur Vorwürfe anderer Frauen (manche noch nicht einmal selbst Mutter), Verurteilungen und Hetze.

 

So langsam merkt sie, dass das Geld knapper wird. Der Gerichtsvollzieher steht auch schon vor der Tür und verlangt nach der Tilgung der angehäuften Schulden. Sie kann nicht mehr. Der Vater des Kindes meldet sich nicht und wenn, dann nur eine kurze SMS, die in ihr die Hoffnung schürt, er könnte zurückkommen. Aber er kommt nicht mehr zurück. Er will weder sie in seinem Leben haben noch seinen Sohn. Und die kleinen Fluchten werden immer größer. Bis eines Abends das passiert, wovor sie sich am meisten fürchtete. Sie kommt nach einem nächtlichen Ausflug zu ihrem Wohnhaus zurück und sieht die Polizei mit Blaulicht davor stehen….

 

Die Autorin schreibt in kurzen Sätzen und Kapiteln über das Leben ihrer Protagonistin, was der Geschichte eine Dringlichkeit und unglaubliche Intensität verleiht. Als besonders erschreckend habe ich die Teile aus den Internetforen empfunden. Diese Beiträge sind so verstörend und belastend, weil sie auch so nah an der Realität sind. Vorwürfe an Frauen, die nur auf der Suche nach Hilfe und Verständnis sind und vor Verzweiflung sich nicht zu helfen wissen, und die in Beleidigungen und Drohungen enden.

 

Ein großer Teil des Buches zeigt auch die gesellschaftliche Meinung von der Rolle der Frau und des Manns deutlich auf – die Frau ist Mutter, nachdem sie ein Kind geboren hat, und dann nur noch Mutter. Ihre Arbeit, ihre Interessen und ihr soziales Leben stehen hinter dem ihres Kindes und auch ganz klar hinter denen ihres Mannes, der das Recht auf Erholung und Freizeit hat, immerhin verdient er das Geld.

 

Dieses Buch ist ein absolutes Highlight in diesem Frühjahr: Es zeigt die gesellschaftlichen Umstände auf, in denen wir derzeit leben und aus denen man ohne Empathie und gegenseitiger Wertschätzung nicht herauskommt.

 

Carole Fives

Kleine Fluchten

Paul Zsolnay Verlag

144 S. - € 19,00

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