Jens Köster
Adèle hat alles. Ehemann, schicke Wohnung, Kind, das Leben in der Großstadt Paris. Und dann doch nicht. Sie spielt mit ihrem Leben, zerwirft heimlich alles und sucht unendlich lange, nach dem, was sie scheinbar nicht hat. Trifft sich mit Männern, ist angewidert vom Small- Talk und vom Alltag, obwohl und gerade weil sie viel Liebe zu ihrer kleinen Familie spürt. Immer extremer werden ihre Treffen mit anderen Menschen, mit Exzessen, die zum Teil brutaler kaum sein können. Aber auch da erscheint sie mit sich selbst unendlich einsam. Spürt sie sich noch selbst? Und was ist das, das perfekte Glück?
Leïla Slimanis Buch "All das zu verlieren" ist genau deshalb so genial, weil es mit unseren fest gefahrenen Vorurteilen, Beurteilungen und Einteilungen von Menschen und vom menschlichen Zusammenleben in Stereotypen so gekonnt spielt. Das "perfekte" Ehepaar mit Kind in Paris. Der "perfekte" Job. Sind das wirklich die Dinge, die einen Menschen glücklich machen können? Und auf der anderen Seite, ist denn wirklich die ständige Suche, die ständige Selbstoptimierung, genau das, was uns glücklicher macht? Was löst die Begierde, das Begehren dessen, was wir nicht haben, aber dann haben wollen, in uns aus? Wie erträgt ein Mensch die Sucht nach dem erotischen Spiel mit dem Fremden?
Dieses Buch regt an, regt auf, es macht nachdenklich. Es ist vor allem sehr gut geschrieben - eine Provokation der neuen Stimme der französischen Literatur, Leïla Slimani, die wir sehr empfehlen.
Darüber zu urteilen und es zu verurteilen, was Adèle macht, ist genauso so falsch wie es einfach nur hinzunehmen. Was geschieht im Stillen? Das, was nicht auszusprechen gewagt wird, liegt hinter der perfekten Fassade, die uns im täglichen Leben häufig vorgegaukelt wird. Es ist das Verlangen, das zu Erleben, was wir nicht haben. Ein faszinierendes Buch, das zum Diskutieren anregt und uns begeistert.
All das zu verlieren
Leïla Slimani
Luchterhand Literaturverlag (2019)
224 S. - € 22,00
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